Ein Raubmord und ein Raubmörder
Kolumne in der Appenzeller-Zeitung von 1862
Nr. 150‒158

In der appenzell-außerrhodischen Gemeinde Speicher wohnte ein hab­licher Bauer, Namens Bartholome Zürcher, gebo­ren den 2. Hor­nung 1806. Er besaß im Weiler »an der Blatten«, zirka 5 Minuten süd­lich vom Dorfe ent­fernt, unweit der Straße nach Teufen gele­gen, ein Heim­wesen und führte als etwas übel­höriger, unbe­holfe­ner, unver­hei­ratheter Mann einen stil­len, zurück­gezo­genen, haus­häl­terischen und durch­aus ehr­ba­ren Lebens­wan­del. Weil vere­in­samt, hielt er ge­wöhn­lich Mieths­leute bei sich im Hause. An dem ver­häng­niß­vol­len Tage, von dem wir reden werden, war er je­doch allein in sei­ner Woh­nung; seine zeit­heri­gen Haus­genos­sen, die Ehe­leute Kästli, waren eben aus­gezo­gen.
 Es war den 14. Mai 1862, Vor­mit­tags, 15 bis 20 Minu­ten nach 11 Uhr, als eine in der Ge­meinde Teufen wohn­hafte ältere Frau­ens­per­son Zürcher besu­chen wollte, in der Ab­sicht, ihm ihre Dienste als Haus­häl­terin anzu­bie­ten. Sie fand die äußere, sowie auch die innere Haus­thüre offen; alles still. In den inneren Haus­gang getre­ten, er­blickte sie da­selbst zu ihrem Ent­setzen einen Mann, auf dem Gesichte im Blute am Boden lie­gend. Sie er­kannte ihn nicht so­gleich. In der Mei­nung, die Ehe­leute Kästli, mit denen sie bekannt war, woh­nen noch im Hause, ruft sie ihnen: »Hans Härech! Bäbeli!« – Keine Ant­wort. – Indem sie noch­mals einen Blick auf die am Boden lie­gende Leiche wirft, erkennt sie in der­sel­ben plötz­lich den gesuch­ten Zürcher. Bestürzt eilt sie von dannen in das nächste Haus, eine Schenke, und macht Mit­thei­lung von dem ent­setz­lichen Ereig­niß. – Zufäll­iger Weise war der Gemeinde-Polizei­diener zu­geg­en; die­er und der Haus­wirth eil­ten sog­leich nach Zürchers Woh­nung. Sie fan­den die Leiche, wie die Frau gemel­det hatte. Der Kopf lag in einer Lache von Blut und zeigte schwere Quetsch­ungen. Sie wen­de­ten den Kör­per um – die Brust war durch­stochen und mit Blut be­deckt. Im Hause herrschte Todten­stille; Nie­mand zeigte sich; keine Spur der Person des Thäters konnte wahr­genom­men wer­den. Die beiden Haus­thüren, das Thür­lein, wel­ches aus dem Hause in den ange­bauten Stadel führte, die Stuben- und Seiten­kammer­thüre, sowie die aus der Wohn­stube in die Dielen­kammer standen offen. In letz­terem Zimmer fan­den sie den Doppel­schrank er­brochen; bei ihm lehnte ein blut­befleck­tes Beil. – Der Polizei­diener machte sofort Anzeige bei Amt und blieb als Wache bei der Leiche, zu der sich bald Jung und Alt in neu­gierigem Schrecken herbei­drängte.
 Die Gemeinde­behörde er­mangelte nicht, die nöth­igen An­ord­nungen zu treffen und schleunige Mel­dung an das Präsi­dium des Kan­tonal-Ver­hör­amtes zu machen, auf dessen Ver­fügung die Verhör­kommis­sion des Landes sofort in Funk­tion trat. Diese nahm eine lokale und ärz­tliche In­spek­tion vor, die den Be­fund der oben mit­getheil­ten That­sachen konsta­tirte. Die Leiche lag im innern Haus­gange, die schwarze Zipfel­mütze in einer Blut­lache, wo der Kopf anfäng­lich gelegen. Die Thüren des Schrankes in der Dielen­kammer waren stark beschädigt; die Schlös­ser hiengen lose. Außer dem hier vor­gefun­denen Beile wurde neben der Leiche ein halber Bogen st. gallischer »Sammlung der Gesetze und Beschlüße von 1858/60« auf­gehoben, welcher Ein­drücke und Falten enthielt, die auf Ein­wicke­lung einer Mes­ser­klinge deute­ten und der Breite der Stich­wunde ent­sprachen.
 Un­ver­züglich wurde durch zwei berufene Ärzte das gericht­liche visum et reper­tum aus­genom­men. Die Leiche fand sich noch nicht starr, am Nacken sogar noch warm, der Mund halb geöff­net, die Augen offen und noch nicht gebro­chen, die Hände halb geschlossen. Nichts deutete auf geleis­tete Gegen­wehr des Tod­ten; die Klei­der waren nicht zer­rißen; die Hände und Finger hatten keine Wunden. Das Gesicht zeigte mehrere Quetsch­ungen, am Nasen­bein, am Rand des Stirn­beines, auf der Mitte und den beiden Seiten der Stirne; doch schienen die ers­tern mehr vom Falle des Kör­pers her­zu­rühren. Das Hin­ter­haupt aber hatte schreck­liche Ver­letzungen, die den Schädel bloß­leg­ten. – An der lin­ken Brust, auf der vier­ten Rippe, fand sich eine 5½ Linien lange Stich­wunde, der viel Blut ent­quollen war. Der übrige Körper zeigte keine Spur von Ver­letzung.
 Sogleich nach Ent­deck­ung des furcht­baren Vor­falls wurden eifrige Nach­forsch­ungen ange­stellt in Be­treff der Per­so­nen, die am Vor­mit­tag des 14. Mai das Haus Zürchers besucht hatten, oder in des­sen Nähe gese­hen wor­den waren. Die also­bald in der Woh­nung des Ermor­deten vor­genom­mene Ein­ver­nahme jener Frau­ens­per­son, die erste Zeugin des gräß­lichen Ereig­nisses gewesen, der Frau Kästli, die auf die Schreckens­kunde her­bei­geeilt war, des Polizei­dieners und jenes Schenk­wirthes, der den­selben an die Mord­stätte beglei­tet hatte, boten keine An­halts­punkte und führte auf keine Spur des Thäters; eben so erfolg­los blieben einige an­dere Erkun­digungen. Da­gegen aber wurde Anzeige gemacht, daß ein gewisser Metzger Schläpfer, wohn­haft an­ der Stein­egg in Speicher, der die Wurs­terei betrieb und mit seinen Artik­eln Haus­irte, an jenem Vor­mit­tag in der Um­gegend sich herum­ge­trie­ben habe und in meh­reren Schen­ken ein- und aus­gegangen sei. Man wollte ihn zwischen 10 und 11 Uhr hinten am Stadel Zürchers gese­hen haben. Nach 9 Uhr hatte er seinen Hand­korb in einer Schenke ein­ge­stellt, in einem benach­barten Spezerei­laden eine Zigarre gekauft und die Rich­tung nach Zürchers Hause ein­geschla­gen. Nach Ver­fluß von zika 1½ Stun­den war er wieder in jene Schenke zurück­gekehrt, wo er eine beschei­dene Er­frischung genommen, und um 11 Uhr in eine andere ein­getre­ten, wo er bis 12 Uhr geblie­ben und sich am Spiel um 1 Maß Wein bethei­ligt hatte. Ueber­dies konnte der Ver­hör­kommission nicht ent­gehen, daß sich also­bald der allge­meine Ver­dacht auf Schläpfer gelenkt hatte, weil bekannt war, daß ihn Geld­ver­legen­hei­ten drückten, daß Zürcher wahr­schein­lich am vorigen Tage für ver­kauf­tes Heu eine Summe Geldes ein­genom­men, und weil Schläpfer von rohem Cha­rak­ter war und sich oft freche Aeuße­rungen erlaubt hatte. Aber noch mehr: Es wurde depo­nirt, daß Schläpfer im Lauf des Vor­mit­tags zwei­mal im Hause Zürchers gesehen wor­den war. Kästli, der aus­gezo­gene Mieths­mann Zürchers, war an jenem Morgen Ge­schäfte halber noch­mals in die ver­las­sene Woh­nung zurück­ge­kehrt. Zürcher war drau­ßen mit Feld­arbeit beschäf­tigt. Schläpfer trat ein, bot seine Waare zum Ver­kauf an und Kästli han­delte mit ihm. – Um halb 10 Uhr war ein Milch­mann in die Woh­nung Zürchers ge­kom­men, um ihm Milch zu bringen. Schläpfer war auch anwesend, sprach mit Zürcher, und bemerkte dem Milch­mann, daß er dem­selben Schindel­holz zu Wurst­spießen abzu­kaufen gedenke. Der Milch­mann gieng seines Weges und ließ Schläpfer allein bei Zürcher zurück.
 In der Zwischen­zeit von diesem Momente bis zu dem Augen­blick, da jene Frau­ens­person den unglück­lichen Zürcher im Blute lie­gend getroffen hatte, musste der gräß­liche Mord begangen worden sein.
 Alle diese auf­fälligen Ver­umstän­dungen warfen rechts­genügenden Schuld­ver­dacht auf den über­dies als etwas roh bekann­ten Schläpfer, um ihn sofort in Anklage­stand zu ver­set­zen. Durch den Land­weibel wurde er unver­züg­lich aus seiner Wohnung, wo er glück­licher­weise betroffen wurde, abge­holt und nach Trogen in sichern Gewahr­sam gebracht. Er stellte sich willig dem Gerichts­diener und äußerte auf dem Wege gegen einen Bekannten, er solle, wie es scheine, an dem Vor­fall Schuld sein, es sei frei­lich ein Unglück für ihn, daß man ihn dafür ansehe; aber man müsse der Obrig­keit gehor­chen.
 Die Verhör­kommission beschäftigte sich mit der Samm­lung obiger Indi­zien durch Ein­ver­nahme der betref­fenden Per­sonen und mit ander­wei­tigen Nach­forschungen und Anord­nungen bis Nachts 11 Uhr. Nach ihrer Rück­kunft in Trogen, es war eine halbe Stunde vor Mitter­nacht, wurde Schläpfer in eine Haft­zelle ab­geführt. Die auf ihm gefun­dene Baar­schaft betrug 34 Fr. 8 Rp.
 Des folgen­den Tages, Donners­tags den 15. Mai, verfügte sich die Ver­hör­kom­mis­sion nach der Wohnung Schläpfers, um genaue Haus­durch­suchung vor­zu­nehmen. Es fand sich aber nichts auf den Schuld­ver­dacht Bezüg­liches vor, als eine Anzahl fliegender Bogen aus dem Bande der st. gallischen »Samm­lung der Gesetze und Beschlüsse von 1858/60«, wovon jener bei der Leiche auf­geho­bene halbe Bogen einen inte­grirenden Theil bildete. Die Fal­ten des­sel­ben schienen mit denen der andern über­ein­zu­stimmen. – Die Ein­ver­nahme der Ehefrau Schläpfers lieferte keine weitere Ver­dachts­gründe, weder in Bezie­hung auf sie selbst noch auf ihren Ehe­mann.
 Nach­mittags 2 Uhr wurde durch zwei Aerzte im Bei­sein der Unter­suchungs­behörde und der Gemeinde­haupt­leute die Legal-Sektion der Leiche vor­genommen.
 Die Ver­letzungen des Hinter­hauptes waren so stark, daß der Schädel im ganzen Hintern Umfange voll­kommen gespalten war. Der Rücken des vor­gefun­denen Beiles paßte in die Schlag­wunden. Die Stich­wunde in der Brust erstreckte sich durch den untern Lungen­flügel und den Herz­beutel bis in die linke Herz­kammer. Der Wund­kanal war auf der innern Seite wei­ter ein­geschnit­ten als von außen. Die Wunde schien nach dem ers­ten Schnitte durch einen zweiten nach oben und innen erwei­tert wor­den zu sein. – Das ärzt­liche Gut­ach­ten gieng dem­nach dahin, daß die Wunden Zürchers demselben durch fremde Gewaltthätigkeit absichtlich beigebracht worden seien, daß die Stich- und Schlag­wun­den, jede für sich, unbe­dingt und augen­blick­lich töd­lich waren, daß zu den Stich­wunden ein langes, spitzes Messer, zu den Schlag­wunden aber wahr­schein­lich das vor­gefun­dene Beil gedient haben müsse. Daraus, daß nur eine äußere Stich­unde sich vor­fand, im Innern aber zwei, mußte gefol­gert wer­den, daß das Messer nach dem Ein­stechen wieder etwas zurück­gezo­gen und dann ver­mittelst Hebung oder Senkung des Griffes noch­mals ins Herz vor­gestoßen wor­den sei, was etwelche Kennt­niß von der Lage des Herzens verrathe. Auf den Kopf wurden wahr­schein­lich zwei Hiebe geführt, die dem Un­glück­lichen erst bei­gebracht wur­den, als er nach erhal­tener Stich­wunde auf dem Gesicht am Boden lag. Die Schlag­wun­den zeugen von großem Kraft­auf­wand.
 Und end­lich wurde noch an sel­bigem Tage der inhaf­tirte Schuld­ver­dächtige zum ersten Male in’s Ver­hör genom­men. Es ist Johann Ulrich Schläpfer von Grub, wohn­haft auf Stein­egg in Speicher, geboren 1821, Ehe­mann und Vater von zwei Kin­dern, seines Berufes ein Metzger.
 Schläpfer er­klärte sich un­schul­dig; er wäre sonst nicht noch mit andern Leu­ten in das Haus Zürchers gegangen, um die Leiche auch zu bese­hen; er sei an jenem Vor­mit­tage in diesen und jenen Häu­sern gewe­sen, auch zwei­mal bei Zürcher, das erste­mal, um ihm Würste anzu­bie­ten, habe aber nur den Kästli im Hause ange­troffen, das zweite­mal, um ihm Schin­deln­holz abzu­kau­fen, wie der Milch­mann selbst ge­hört habe. Zu der Zeit, wo das Ding gesche­hen sein müsse, sei er in der und der Schenke ge­we­sen. Er habe an jenem Vor­mit­tage großen Durst ge­habt, den er fast nicht stil­len konnte. Erst nach dem Mit­tag­essen habe er davon ge­hört. Er habe auch, wie immer, kein Messer bei sich ge­tra­gen und über­haupt nie etwas Unrech­tes gethan und gute Papiere aus seinen Dienst­jahren heim­ge­bracht.
 Die Unter­suchungs­behörde berief nun alle die ihr bekannt gewor­denen Per­so­nen, welche über, die Fahr­ten Schläpfers am Vor­mit­tage des 14. Mai Kunde und Zeug­niß geben konn­ten. Ihre in den Haupt­momen­ten durch­aus über­ein­stimmenden Aus­sagen erhär­teten die Richtig­keit der am Tage des Vor­falles ein­ge­gangenen Anzei­gen und Ergeb­nisse der Vor­unter­suche. Schläpfer hatte um halb 9 Uhr Morgens bei B. Zürcher mit sei­ner Hausi­waare zuge­kehrt, war nach kurzem Auf­ent­halte da­selbst in eine be­nach­barte Schenke getre­ten, wo er ein Glas Most und Wein trank und seinen Hand­korb ein­stellte, mit dem Bemer­ken, er gehe nach Trogen hinüber, hatte sich von da in eine andere Schenke bege­ben und nach kur­zer Zeit, nach­dem er in einem nahen Hause noch eine Zigarre gekauft, die Rich­tung nach Zürchers Hause ein­ge­schlagen. Dort wurde er um halb 16 Uhr von jenem Milch­mann bei Zürcher stehend ange­trof­fen. Um 10 Uhr hatte man ihn bei Zürchers Hause gese­hen. Zwischen 10 und halb 11 Uhr war er wie­der in ein etwas ent­fern­teres Wirths­haus ein­getre­ten, nach kur­zem Auf­ent­halt da selbst auf der Straße, die von Trogen nach Speicher führt, in jene Schenke, wo er den Hand­korb gelas­sen, zurück­ge­kehrt, bald darauf wei­ter gezo­gen und noch­mals in ein Schenk­haus getre­ten, wo er bis 12 Uhr bei Trunk und Spiel sich auf­ge­hal­ten hatte.
 Aus den ein­ge­zoge­nen Er­kun­di­gungen über die Geld­summe, die Zürcher an jenem Tage be­ses­sen haben mochte, ließ sich schlie­ßen, daß die­selbe mit dem Betrage, der dem Schläpfer bei sei­ner Ver­haf­tung ab­genom­men wor­den, so ziem­lich über­ein­stimmend gewe­sen sein dürfte. – Daß Schläpfer in jenen Tagen in Geld­ver­legen­heit war, daß er kleine Pos­ten ent­lehnt hatte oder hatte ent­leh­nen wollen, sowie, daß er einem seiner Gläu­biger auf den Mitt­woch Abend eine Abzah­lung ver­sprochen hatte, wurde eben­falls zur That­sache er­ho­ben.
 Am näm­lichen Tage nahm die Unter­suchungs­behörde eine noch­malige Lokal-Inspek­tion in der Behau­sung des ermor­de­ten Zürcher vor und traf hier des­sen Schwes­ter und Erbin, die nach erhal­tener Schreckens­kunde von Heiden her­bei­ge­eilt war. Sie vermißte die Taschen­uhr ihres Bru­ders. Die Orts­behörde erhielt so­gleich Weisung, in der Woh­nung Schläpfers nach der­sel­ben zu forschen. Ihre Bemühun­gen blie­ben erfolg­los.
 Die unzu­reich­ende Ver­theidi­gung Schläpfers, sowie die genann­ten Indi­zien konn­ten der Unter­suchungs­behörde kaum mehr Zwei­fel übrig lassen, daß Schläpfer der Thäter des Raub­mor­des sei, der an dem unglück­lichen Bart­holome Zürcher verübt wor­den. In ihrer Ueber­zeu­gung mußte er der Schuld so gut als über­wiesen sein. Sie über­ließ aber den­sel­ben seinem Nach­denken und Insich­gehen in der stillen Ein­sam­keit der Haft­zelle und suchte in wohl­ver­stan­dener und wohl­berech­neter Auf­fas­sung ihres Berufes auf dem Wege der Ein­wir­kung auf Gemüth und Gewis­sen des Inquisi­teli ein frei­wil­liges Geständ­niß zu erhal­ten, ehe sie zu dem um­ständ­liche­ren, nöthi­genden Mit­tel der Ueber­wei­sung schrei­ten wollte.
 Sie benutzte hiezu den für den Schuld­igen, wenn er’s anders war, tief ergrei­fen­den Moment, da am Mor­gen des folgen­den Sonn­tags, den 18. Mai, von dem nahen Speicher herüber die Todten­glocke erschallte, die sei­nem unglück­lichen Opfer zu Grabe rief und die mit ihren Trauer­klängen an das Ohr und Gewissen des Mör­ders schlug. – Schläpfer wurde vor­beru­fen. »Hört ihr es dem Zürcher in’s Grab läu­ten? Was sagt euch euer Gewissen?« – »Ich bin schuldig. Ich bin der Thäter. Das Läu­ten hat mich so er­grif­fen, daß ein Schauer sich meiner bemäch­tigt hat; ich will das Bekennt­niß ablegen.« Und er thats; und thats mit jener Um­ständ­lich­keit, mit jenem Gefühl tiefer Reue und in sol­cher Ueber­ein­stimmung mit den gesammel­ten Indi­zien, daß sein Geständ­niß keinen Zwei­fel an der vollen Wahr­heit des­selben übrig ließ, um so mehr, als er das­selbe bei einem zweiten Ver­höre, Mitt­wochs den 21. Mai, frei­willig bestä­tigte und theil­weise ergänzte. – Auch in den folgen­den Ver­hö­ren über einige Speziali­tä­ten blieb er diesem Bekennt­niß treu, gab mit der größ­ten Berei­twilli­gkeit und Gelasse­nheit über alles Ver­langte Aus­kunft und benahm sich über­haupt reu­müthig und dank­bar. Seine Lebens­geschichte wußte er mit selte­ner Geis­tes­samm­lung und mit einer Anschau­lich­keit zu erzäh­len, die tiefe Blicke in seinen Charak­ter, seine Ver­hält­nisse und die ver­borge­nen Gänge seines Her­zens und Gemüthes thun läßt und daher reich ist an psycho­logischen und mora­lischen Momen­ten.
 Das Geständ­niß der schwar­zen That, das zu­gleich die Geschichte des Mor­des ent­hält, kennen unsere Leser. Es fin­det sich in Nr. 149 dieses Blat­tes; wir wol­len es daher nicht wieder­holen.
 Wie Schläpfer ange­ge­ben, fand sich die Uhr, die auf 16 bis 17 Fr gewer­thet wurde, wohl ver­steckt in seiner Metzg und das Stilet vor dem Hause Zürchers im Boden, die Spitze der Klinge aber in der Wand.
 Der Thäter war ermit­telt und in den Hän­den der Gerechtig­keit.
 Und wer war der Mensch, der mit kaltem Blute um schnö­den Gel­des wil­len einem Mit­menschen, der ihm nicht das geringste Leid gethan, ohne Er­barmen nied­er­stechen konnte, und die grenzen­lose Frech­heit hatte, es zu thun am Hellen Tage, im Hause eines bevölker­ten Weilers?
 Wer war der Ver­stockte, der es noch wagen durfte, einige Stun­den nach voll­brachter Blut­that sein Opfer in Gegen­wart Anderer noch­mals zu sehen, sogar zu berüh­ren und auf die Todes­wun­den hin­zu­zei­gen, dem sein Gewis­sen noch zu­ließ, dabei die leicht­fer­tigen Worte hin­zuwer­fen, in Italien mache man sich frei­lich nichts daraus, wenn Einer kalt gemacht werde, das passire oft.
 War dieser Mensch wirk­lich ein ver­här­teter, un­ver­besser­licher Böse­wicht, ein Aus­wurf der mensch­lichen Gesell­schaft, von ihr gefürch­tet und gemie­den, ein bekann­ter Frevler an Gesetz und Ord­nung, der auf Dieb­stahl, Raub und Mord aus­gieng?
 O nein! Er war ein Mensch von so unbe­scholte­nem Rufe, wie tausend andere, ein Mensch, zwar jäh­zornig, rachs­üchtig und von etwas rohen Sitten, aber ein Bür­ger, der laut amt­lichem Zeug­niß »in allen bür­ger­lichen Ehren und Rech­ten stund und nach all­gemei­nem Aus­druck eines guten Leu­mun­des genoß«. Kein Mäckel ruht auf seiner Red­lich­keit im Han­del und Wan­del. Er galt als »dienst­ferti­ger, uneigen­nütziger, thätiger und arbeit­samer Mensch«. Er war »ein guter, besorg­ter, seine Kin­der lieben­der Fami­lien­vater«. Mit einem Worte, er nahm in der mensch­lichen Gesell­schaft keine andere Stelle ein, als tausende seiner Mit­menschen, die eines natür­lichen Todes ster­ben und die die all­ge­meine Theil­nahme zu Grabe beglei­tet, wäh­rend er nun, als Mör­der ver­ur­theilt, sein Leben unter dem Schwerte des Scharf­richters endete.
 Wie ist es gekom­men, daß dieser Mensch so tief sin­ken, eine so furcht­bare That bege­hen konnte? Das Menschen­herz ist ein räthsel­haft Ding und seine ver­bor­genen Gänge sind schwer zu erforschen; wir sehen eben nur die äußere Hülle, die es um­gibt und die seine inne­ren Zu­stände und Bewegungen ver­deckt. Mit einem Male, urplötz­lich wird ein Mensch nicht zu einem so vor­sätz­lichen, erbarmungs­losen Mör­der. Eine Reihe innerer Vor­gänge muß voraus­gegangen sein, leiden­schaft­liche Charak­ter­ei­gen­schaf­ten müssen sich unbe­wacht und unge­zähmt ent­wickelt, äußere Ver­um­stän­dungen deren ver­derb­liche Reife beför­dert haben, und end­lich bedarf es nur eines gewis­sen An­las­ses, um eine That an’s Tages­licht zu brin­gen, die uner­klär­lich erscheint und einen fürchter­lichen Blick in den tiefen Abgrund des ver­dor­benen Her­zens thun läßt.
 Auf einige sol­cher Spuren leitet uns seine Lebens­geschichte.
 Schläpfer war sprö­den, unbeug­samen, trotz­igen Charak­ters. Schon als Knabe war er ein »Hitz­kopf« und wurde manch­mal so rasend, daß er sich kaum mäßigen konnte. Er liebte »Balge­reien« mit seinen Mit­schülern und hatte darum keine eigent­lichen Kamera­den oder Jugend­freunde, son­dern schloß sich bald an diesen, bald an jenen an, je nach­dem einer der Aus­übung seiner wilden Triebe Vor­schub leistete. Er verübte manche schlimme Buben­streiche. In einer Auf­wal­lung von Zorn und Neid zer­trümmerte er einst seinem Bru­der einen neuen Schlit­ten, den dieser zum Christ­geschenk erhal­ten hatte. Er sollte sich mit einem alten begnügen, zur Strafe für bewiese­nen Un­gehor­sam. In Gemein­schaft eines Mit­schülers ging er sogar so­weit, seinen Leh­rer zu miß­han­deln, der ihn wegen Un­fleiß und stör­rigem Betra­gen in der Schule zurück­behal­ten hatte. Jeder vermeint­lichen oder wirkl­ichen Unbill setzte er grimmige Rache ent­gegen. Seinen Stief­vater, der ihn aller­dings zu strenge behan­delte, »nahm er zu Haß an und suchte ihn auf alle mög­liche Weise zu erzür­nen und böse zu machen«. Er unter­ließ auch nicht, andere in ähn­lichen Fällen zur Rache auf­zu­stif­ten. Sein Lehr­meister, bei dem er das Metzger­hand­werk erlernte, war zufrie­den mit seiner Thätig­keit, äußerte aber, keinen sprö­deren Lehr­jungen gehabt zu haben. Als er wegen seines kleinen, schwäch­lichen Kör­pers »grund­braven« Leu­ten über­geben wurde, daß er bei ihnen das Weben erlerne, ent­lief er nach kur­zer Zeit, weil er nicht in den Keller ein­ge­sperrt sein mochte. Als Knecht über­warf er sich manch­mal mit seinen Meis­tern, ob­schon diese seine Thätig­keit und Red­lich­keit schätz­ten. Trotz­köpfig ging er immer seinen eigenen Weg und wollte sich nichts sagen lassen. Selbst seine Mutter ver­mochte wenig über ihn, obgleich er von ihrer treuen Liebe und Sorge über­zeugt war. Gegen ihren Willen wan­derte er im Jahr 1843 nach Algier aus und trat 7 Monate spä­ter in den neapoli­tanischen Söld­ner­dienst, in dem er 16 Jahre aus­harrte. Er brachte güns­tige Zeug­nisse seiner Bravour nach Hause; hatte sich aber auch manches leich­tere und schwerere Dis­ziplinar­ver­gehen zu Schul­den kommen lassen. Eines der­sel­ben war der Art, daß es ihn, nach seiner eigenen Erzäh­lung, in Gefahr brachte, mit dem Tode be­straft zu wer­den.
 Und als er bei mehr­mali­gen Ver­suchen, ein eigenes Geschäft zu grün­den und zu betrei­ben, nicht glück­lich war, theils aus Unkennt­niß und in Folge unse­liger ehe­licher Ver­hält­nisse, theils aber völ­lig unver­schul­det, durch die Ungunst der Zeit­um­stände und durch erlit­tene Unge­rechtig­kei­ten: da ver­mochte sich sein trotz­iges Herz wieder nicht zu beu­gen; er haderte mit seinem Schick­sal und statt haus­hälterischer und fleißi­ger zu sein, ergab er sich dem Wirths­haus­leben und dem Trunke und ver­nach­läss­igte sei­nen Beruf. In der Auf­regung des Trun­kes nach Hause zurück­ge­kehrt, machte er dann oft seinem Zorne Luft durch Herum­wer­fen oder Zer­schla­gen von Gegen­stän­den; und wollte man ihm ent­gegen­tre­ten, so machte er bis­wei­len fürch­ter­liche Droh­ungen. Ja, der Moment der blu­tigen That selbst ist ein Zeug­niß seines heftigen, ungestümen, durchsetzenden Charakters. Zürcher ging in seine Kam­mer, um ihm endlich die hart­näckig ver­lang­ten 20 Fr. zu leihen, Schläpfer, wahr­chein­lich in räuberischer Absicht, ihm nach. Zürcher, ver­muth­lich von Unwillen und Furcht ergrif­fen, wandte sich wieder um, ver­weigerte auf’s Reue das Anlei­hen, drohte ihm mit gericht­licher Klage und wollte das Fens­ter öffnen, um nach Hülfe zu rufen. Jetzt dachte Schläpfer: »Ich bin ver­rathen, ich werde ein­gezo­gen, bestraft und verach­tet. Ich muß, ich muß!« – »Ich wurde zornig, daß er mir das Geld nicht ge­ge­ben.«
 Es ist klar, daß ein so unge­zähmtes Herz nie­recht dem Guten und Gött­lichen zu­gewen­det sein konnte, obschon es ihm nicht an augen­blick­lichen tiefen Regungen und Empfindungen gebrach. »Der Kon­fir­manden­unter­richt«, sagt Schläpfer von sich selbst, »machte keinen blei­benden Ein­druck auf mich. Zum heili­gen Abend­mahl ging ich das erste Mal mit guten Gedan­ken und dem Vor­satz, ein guter Mensch zu wer­den und den alten Menschen abzu­legen; in­dessen hatte der Unter­richt keinen solchen Ein­druck auf mich gemacht, daß jene Vor­sätze in mei­nem Her­zen Wurzel schlu­gen.« – Mit religi­ösen Dingen trieb er manch­mal Spott; es seien nur so Klausereien, sagte er; todt sei todt; in­des­sen konnte er in der glei­chen Vier­tel­stunde wieder anders und ernst werden. Wenn er auf seine ver­storbene Mutter zu sprechen kam, so fing er gewöhn­lich zu weinen an, sagte, wie sie eine gute brave Frau, gewesen, er wollte, er wäre wie sie, sie habe ihn zum Guten ange­hal­ten, aber er habe nicht auf sie ge­horcht. Mehr als ein­mal sagte er auch zu einem seiner Meis­ter, er gehe noch auf ihr Grab, um zu beten, oder er habe auf dem­selben gebetet.
 »Ich erkannte meine Feh­ler«, äußerte Schläpfer ferner im Ver­hör, »aber sie abzule­gen und mich auf­zu­raffen, ver­mochte ich nicht, obschon ich manch­mal mit bangem Herzen an die Zukunft dachte.« – »Wenn ich mein Kind sah, so machte dessen An­blick einen sol­chen Ein­druck auf mich, daß mein Blut auch in der höchs­ten Zornes­auf­wal­lung sogleich ruhiger wurde. Ich betete auch einige Male das »Vater Unser« mit ihm, wenn ich es zur Ruhe legte, muß indes­sen beken­nen, daß ich das Gebet für mich seit Jah­ren ver­säumte; ich erin­nere mich nur, auf der Reise durch Frank­reich, wo ich die Sprache nicht ver­stand und bis­wei­len mir kaum zu hel­fen wußte, gebetet zu haben.« – Die Kirche hatte ich nur sel­ten besucht; ich fand keine Erbau­ung, mein Herz war kalt, ich setzte mich über die Reli­gion hinweg.«
 Solch’ eine Natur, wie die Schläpfer’s, hätte einer beson­ders sorg­fältigen Erziehung bedurft, einer Erziehung, die es ver­stan­den hätte, durch Bei­spiel und Wort die schlimmen Charak­tereigen­schaf­ten nieder­zu­hal­ten und dagegen die guten Seiten seines Wesens zu pfle­gen und heran­zu­ziehen. Lei­der war dies nicht der Fall. Ein glück­liches Familien­leben hat er nie gekannt. Seine Eltern waren schon zur Zeit seiner Kind­heit richter­lich geschie­den worden. Sein Stief­vater behan­delte ihn hart. Früh mußte er sein Brod unter fremden Leuten suchen und blieb sich selbst überlassen. So konnten die Leidenschaften seines Herzens ungehin­ert fort­wuchern. Er hatte zwar eine gute, sehr gute und ver­ständige Mutter; aber ehe­liche Ver­hält­nisse banden ihr die Hände. Sie kümmerte sich oft unter Thränen über ihren Ulrich, sowohl während seiner Jugendzeit, als in späte­ren Jah­ren. So schrieb sie ihm unter’m 25. März 1852 nach Neapel: ... »Wenn du heim­kommst und beschei­den bist, »wirst du gewiß geliebt werden, von Solchen, die du nicht meinst. Du mußt dich aber der vorigen Gesell­schaft nimmer an­nehmen; denn sie ist untreu und falsch, wie du gewiß erfah­ren hast; diese lassen Einen stecken, wenn sie keinen Nut­zen mehr haben. ... Ich will für dich thun, was ich kann. Bist du kind­lich, so will ich mütter­lich sein. ... Ich will unter­dessen (bis du heim kommst) um einen Platz für dich sehen ... Lebe wohl und gedenke an deine dich auf­richtig liebende Mutter und Geschwister. – Und in einem Briefe vom 28. Januar 1851: »Daß du heim­kommen willst, freut mich; wenn du arbei­ten willst, so ist es uns Allen herz­lich lieb. Die Deinigen las­sen dich grüßen, mit dem Wunsche, daß Gott dein Lei­ter und Füh­rer sei in allen Dingen, was eben auch mein herz­licher Wunsch ist. ... Du glaubst nicht, wie gut die Fabri­ka­tion jetzt geht. Alle Leute haben die Hände voll zu thun, der Arme wie der Reiche. O, wenn’s nur von langer Dauer ist und die Leute auch nicht so über­müthig wür­den und auch den­ken thä­ten, es könne auch wie­der anderst werden, und sie wollen jetzt sparen, weil’s Zeit ist. Es heißt: Spare in der Zeit, so hast du in der Noth! ... Mein Wunsch ist auch, daß du die Zeit, die du noch im Dienst bist, treu und gewis­sen­haft aus­harrest. Ein jeg­licher Arbei­ter ist seines Loh­nes Werth, habe er zu thun, was er wolle. Gott wird dich auch wieder zu etwas Ande­rem ver­fügen. Er hat Aller­lei für die­jenigen, die es recht machen, und dies, hoffe ich, werde dein Vor­haben sein und blei­ben. Du bist jetzt in einem Alter, das nimmer flüchtig sein soll. Ich hoffe, du werdest an die Menschen geden­ken, die dich in die Ferne gelockt haben und sie als Spreuer ach­ten, wenn du wie­der nach Hause kommst, und mehr auf uns sehen, als wie vor­her; denn wir meinen es gewiß gut, glaube nur! Nichts soll dir vor­gerückt wer­den aus Bos­heit, son­dern Alles wollen wir in Liebe z­urecht legen. ... Jetzt lebe wohl und gedenke an deine treue Mutter, welche dich nie ver­ges­sen hat.« – Als seine Ge­schwis­ter ihm die Krank­heit und den nahen Tod der Mutter melde­ten, schrie­ben sie ihm: »Auf dem Sterbe­bette unter großen Lei­den gedenkt unsere liebe Mutter deiner im fernen Lande, welche immer um dich besorgt war und ist bis zum letzten Augen­blick. ... Trauern und dich freuen wirst du, wenn du bedenkst, wie viel Kummer und Sorge die zärt­lich und treu liebende Mutter deinet­wegen hatte und wie sie dir doch von Herzen ver­zeiht und ver­gibt, ja weder Rast noch Ruhe hatte, bis deine Schul­den in Ordn­ung waren. Du bist die bestän­dige Sorge auf ihrem Kran­ken- und Sterbe­lager; wie manche Bitte steigt zum Himmel auf für dein Leibes- und Seelen­heil! Kein Tag ist vergangen in gesunden und kranken Tagen, wo du nicht fast in jedem Gebete inbe­griffen warst«.
 Die gute Mutter aber konnte sich des Sohnes nicht, wie sie wollte, an­neh­men; er war ihrem un­mittel­baren Ein­flusse größten­theils ent­zo­gen.
 Welcher wohl­thätigen Ein­drücke übrigens der Knabe fähig gewe­sen wäre, beweist sein Auf­ent­halt auf dem Schloße Heidel­berg im Thur­gau. Als 11-jähriger Knabe war er mit seinem Bruder dahin gekommen, um auf dem Schlosse an dem Unter­richt der dasigen Haus­leh­rer Theil zu neh­men. »Hier war ich sehr gut auf­genom­men; Frau M. und Frau Sch. liebten mich, ich mußte zwar pünkt­lich gehor­chen; aber ich that es gerne, und nur ungerne verließ ich (nach 26 Wochen) diesen Auf­enthalts­ort, was aus dem Grunde geschah, daß ich den übrigen Zög­lingen im Unter­richte nicht fol­gen konnte, weil ich bedeutend jünger war, als sie. Ich erinnerte mich stets mit Freuden dieser in Heidel­berg ver­leb­ten Zeit. Frau Sch. betrach­tete ich als meine zweite Mutter und Frau M., die mit meiner Mutter befreun­det war, beschenkte mich, so oft sie zu uns nach Speicher auf Besuch kam.«
 Im elter­lichen Hause und spä­ter wäh­rend der Lehr­zeit beim rauhen Hand­werke ver­wisch­ten sich diese mildern Ein­drücke wieder; sein Herz ver­wilderte und seine Leiden­schaften er­stark­ten.
 Diese Ver­wilde­rung des Herzens wurde durch sein Sol­daten­leben in Neapel noch mehr beför­dert. »Daß man sich im Sol­daten­leben Manches erlaubt, ist selbst­ver­ständ­lich; allein ein Ver­brechen ruht nicht auf mir. Ich habe meinen Abschied in allen Ehren erhalten; dafür zeugen die Certifikate meiner Obern, und diese Zeug­nisse habe ich stets mit Freu­den gelesen.« – Schläpfer war bei der Ein­nahme von Messina und erzählte vor Ver­hör die dabei vor­ge­kom­menen Gräuel des Krie­ges. »Ich konnte gleich­gültig und gefühl­los den Feind nieder­stechen und nieder­schießen; ich habe dies auch gethan bei der Erstürmung des Klos­ters St. Magda­lena, wo die Hälfte unserer Mann­schaft in 1½ Stun­den fiel. Wir hatten Befehl, alles nieder­zu­machen, keinen Pardon zu geben und auch Nie­man­den gefan­gen zu nehm­en. Nach der Erstür­mung wurden mehrere hun­dert Menschen, die im Klos­ter betrof­fen wurden, nie­der­geschossen oder den­sel­ben das Bajonet in den Leib gesteckt. Wir waren wie wüthend. Wo ich aber keinen Befehl hatte, miß­handelte ich Nie­man­den, außer einem Pfaffen, den ich auf­fing und dem Haupt­mann zufüh­ren mußte. Derselbe war widerspenstig; ich versetzte ihm einige Kolben­schläge – daß war unnöthig. –Den folgenden Tag wurde er kriegs­recht­lich erschos­sen. Zu jener Zeit schätzte ich ein Menschen­leben gering, auch das meinige.«
 So konnte es kommen, daß Schläpfer end­lich einer That fähig wurde, deren er sich selbst kaum fähig gehal­ten hätte, wie er auch sagte: »Obschon ich Gebet und Kirche ver­säumte, mich um alles Religi­öse nicht be­kümmerte und in dieser Beziehung in den Tag hinein­lebte, so ist es mir doch immer uner­klär­lich, wie ich die furcht­bare That bege­hen konnte, einen Menschen zu er­mor­den, der mir nichts Lei­des gethan hat. Es war eine un­glück­liche Stunde!« – Und doch war auch diese That nur ein natür­licher Aus­fluß seines Herzens­zustan­des.
 Wie es mit seinem Innern un­mittel­bar vor und nach der That be­schaf­fen war, zeigt uns eben­falls sein eigenes Geständ­niß: »Ich war in letz­ter Zeit meines Lebens über­drüssig. Ich war in einer betrüb­ten Lage; kein Fleisch und kein Geld; ich wußte nicht was anfan­gen, um wie­der zu einem Rind zu gelan­gen, und über­dies ein kleines Dar­leihen, wie ich es ver­sprochen hatte, zurück­zu­zah­len. Armuth, Kummer und Sorgen ließen mir keine Ruhe. Es war mir mehrere Tage fürch­ter­lich bang. Da mir einmal der Gedanke an Zürcher gekommen war, konnte ich seiner nicht mehr los werden; doch hoffte ich, er würde mir das Geld leihen. Ich dachte hin und her, ob ich es anders machen könne; aber ich fand keine Hülfe und kam immer wie­der auf den Gedan­ken zurück. Am Mitt­woch Morgen hielt ich das Messer, womit ich Zürcher er­stach, in der Hand, um dasselbe mir in die Brust zu stoßen; ich legte es jedoch wieder auf den »Klotz« und gieng an meine Arbeit. Vorbereitungen zu dem Morde machte ich keine, als daß ich das Messer mit­nahm. Ich glaube, obschon ich mich mit dem Messer ver­sah und die Absicht hatte, Zürcher zu tödten, wenn er mir das Geld nicht leihe: ich hätte ihn doch nicht getödtet, wenn er das Fens­ter nicht hätte öffnen wol­len und ich das Gesche­hene hätte un­gesche­hen machen können. – Sobald der Mord voll­bracht war, fühlte ich, welch’ ein un­glück­licher, ver­worf­ener Mensch ich nun sei. Bei diesem Gedan­ken meinte ich, ich wolle mich selbst der Obrig­keit aus­liefern; doch fand ich für bes­er, die That ab­zu­leug­nen, wenn ich der­sel­ben bezich­tet werden sollte. Ich fürch­tete jetzt, dieses könnte gesche­hen, weil ich im Hause des Zürcher gewe­sen und gese­hen wor­den und nicht wußte, wo das Papier hin­ge­kom­men, in das ich das Messer ein­ge­wickelt hatte. Es kam mir auch in den Sinn, ich könne mich über den Erwerb des Geldes nicht aus­wei­sen; ich hätte es zwar weg­wer­fen kön­nen, allein ich dachte, wenn ich ent­deckt werde, so könne es dann den Betref­fen­den wieder zuge­stellt werd­en. Daß ich nach der That noch Wirths­häuser besuchte und auch den Ermorde­ten noch anzu­sehen wagte, ge­schah, um un­befangen zu erschei­nen und mich un­ver­dächtig zu stellen. Wie aber mein Inneres be­schaf­fen war, kann ich nicht sagen. Es schien mir, ich könne auf eines jeden Gesicht lesen, man halte mich für den Thä­ter. Ich emp­fand eine furcht­bare Reue über meine That.«
 Von dem Augen­blicke an, da er seine Schuld bekannt hatte, be­nahm sich Schläpfer reumü­thig, erge­ben, dank­bar und den Mah­nungen und Tröstungen des Christen­thums zugäng­lich. Erst die schwere Blut­schuld ließ ihn sich selbst erken­nen und ver­mochte die harte Rinde seines Herzens zu brechen, wie er auch selbst sagte: »Seit­dem ich das Ge­ständ­niß abge­legt habe, fühle ich mich erleich­tert; ich sehe ein, daß ich ein sündhaftes Leben geführt und eine schreck­liche That began­gen habe und des­halb nicht mehr werth bin, auf dieser Erde noch län­ger zu leben. Ich ver­diene auch die gute Behand­lung nicht, die mir hier zu Theil wird. O könnte ich nur dem Zürcher das Leben wie­der geben, ich würde gerne ster­ben; das meinige ist mir zur Last und ich will die kurze Dauer des­selben noch an­wen­den, um mich mit dem lie­ben Gott aus­zu­söhnen.«
 In dieser Gesin­nung ver­harrte er bis an sein Ende.
 Unter’m 10. Juni 1862 er­klärte die hohe Standes­kommis­sion nach Ein­sich­tnahme der Ver­hörak­ten die Pro­zed­ur Schläpfer’s für ge­schlos­sen und über­mittelte den Straf­fall dem löbl. Krimi­nal und Polizei­gericht. Vor dem­sel­ben, es war am 16. Juni, war der Beklagte durch Rathsherr Bartholome Haas von Grub ver­bei­stän­det, wel­cher in würdi­ger und wacke­rer Ver­theidigung die That statt als »Mord« als »Todt­schlag« zu quali­fi­ziren suchte und auf die Umstände und Ver­hält­nisse hin­wies, die mil­dernd in die Waag­schale des Rich­ters fal­len dürf­ten. – Der Ange­klagte selbst erklärte dem Gericht, daß er den Ak­ten Nichts mehr bei­zufü­gen und durch seine That den Tod ver­dient habe, wünsche aber, daß ihm das Leben geschenkt wer­den möchte, theils seiner 2 Kin­der wegen, und theils, um mit der That bewei­sen zu kön­nen, daß er in sich gegan­gen sei. Weitere Ver­brechen (deren ihn dunkle Gerüchte beschul­digen wollten), las­ten nicht auf ihm. Auch könne ihm gewiß Nie­mand nach­sagen, daß er sonst je ungerechtes Gut gewollt habe.

 Das Gericht, – in Erwägung,

1) daß theils durch das Ge­ständ­niß des Inqui­site, theils durch Ueber­ein­stim­mung des­selben mit andern er­wie­senen That­sachen erho­ben vor­liegt: Es habe Schläpfer in der Absicht, den Zürcher zu berau­ben, diesen ver­mittelst eines für sich allein tödt­lichen Messer­stiches in das Herz und zwei mit bewaffne­ter Hand geführ­ter, eben­falls unbe­dingt tödt­licher Schläge auf das Hinter­haupt getödtet und ihn nach­her seiner Baar­schaft im Betrage von 34 Fr. 60 Rp. und einer amt­lich auf 16–17 Fr. gewer­theten Taschen­uhr wirk­lich be­raubt hat, welche Gegen­stände jedoch alle rück­er­hält­lich waren,

2) daß Schläpfer diese That unter kei­nen die Zu­rech­nung auf­heben­den Um­stän­den, son­dern im Zu­stande voll­kom­menen Selbst­bewußt­seins vor­be­dacht und aus­geführt hat,

3) daß sein reu­müthiges, um­ständ­liches und wah­res Bekennt­niß im Anfänge der Unter­suchung und ohne noch vor­her über­führt zu sein, als Mil­derungs­grund der Strafe für sein Ver­brechen anzu­se­hen ist, woge­gen hin­wieder die Be­harr­lich­keit in sei­nem Vor­be­dachte und die Dreistig­keit, mit wel­cher er die That zur hel­len Tages­zeit und in dem Hause des Ge­tödte­ten und so, daß die­ser sich da­gegen nicht schüt­zen konnte, voll­führte, als er­schwe­rend er­scheint,

  erkannte:

1) Es sei Schläpfer unter Hin­weisung auf den § 71 des Straf­gesetzes vom hohen Ober­gerichte zu beur­thei­len wegen Mor­des, be­gan­gen an Bartholome Zürcher mit­telst eines ihm in das Herz gestoße­nen Mes­sers und durch zwei mit be­waff­ne­ter Hand geführte Schläge an das Hin­ter­haupt, in der Absicht, den Getödteten zu berau­ben, wel­che Absicht er so­gleich nach des­sen Ermor­dung aus­führte, indem er dem­sel­ben 34 Fr. 60 Rp. Baar­schaft und eine auf 16–17 Fr. gewer­thete Uhr raubte – wel­che Gegen­stände aber alle rück­erhält­lich wa­ren – unter Berück­sichti­gung der in Erwä­gung dieses Gutach­tens auf­geführ­ten mil­dern­den und erschwe­ren­den Um­stände.

2) Habe der Ange­klagte sämmt­liche Proze­dur­kos­ten zu tra­gen. Das hohe Ober­gericht ver­sammelte sich den 23. Juni in Trogen. Die Ver­theidi­gung des Angeklag­ten und seines Bei­standes för­derte nichts Neues mehr zu Tage. Der Ange­klagte be­nahm sich auch hier reu­müthig u. erge­ben. Das Gericht er­ließ folgen­des Urtheil:

  In Sachen

des Johann Ulrich Schläpfer von Grub, wohn­haft auf Stein­egg in Speicher, gebo­ren 1821, Ehe­mann der Anna Oertli, Vater von 2 Kin­dern, Berufs Metzger, ver­bei­stän­det durch Herrn Raths­herr Barthol­ome Haas von Speicher, wohn­haft in Grub, be­klagt: wegen Mordes (gleich­lautend mit dem Ur­theil des Kriminal- und Polizei­gerichtes) hat das hohe Ober­gericht erkannt:

1) Es sei in Anwen­dung des Art.H des Straf­gesetz­buches über Johann Ulrich Schläpfer die Todes­strafe ver­hängt,

2) Sei in An­wen­dung des Art. 4 des Straf­gesetz­buches die Todes­strafe durch Ent­haupt­ung zu voll­zie­hen,

3) Sei dieses Todes­ur­theil in Anwen­dung des Art. 23 des Straf­gesetz­buches, des Art. 5 der Ver­fas­sung und des Art. 82 des Straf­ver­fahrens dem ehr­samen großen Rathe zur Begnadi­gung vor­zu­legen.

Man war all­gemein ge­spannt auf die Schluß­nahme des gro­ßen Rathes, um so mehr, da dieser Fall der erste war, der in Anwen­dung der neuen Ver­fassung und Gesetze an das Forum der Behörde gelangte. Der traurige Gegen­stand bildete das Tages­gespräch. Ver­stand und Unver­stand, Lieblosigkeit und Grund­ätz­lichkeit sprachen sich für und gegen die Todes­strafe über­haupt und für und gegen Anwen­dung der­sel­ben im vor­liegen­den Falle aus. Doch muß zur Ehre des Vol­kes gesagt werden, daß die anfäng­liche natür­liche Ent­rüs­tung über den gewalt­samen, fürchter­lichen Ein­griff in die Rechte der persönlichen Sicher­heit in den letz­teren Tagen im Allgemeinen einer milderen Stimmung Platz machte, wozu nicht wenig beitrug, was man über die buß­fertige, erge­bene Hal­tung des Delinquen­ten, wie über seinen frühe­ren unbescholtenen Lebens­wandel vernahm.
 Schläpfer selbst hat kein Begnadi­gungs­esuch an den großen Rath gerich­tet. Er äußerte sich, er betrachte die Schluß­nahme desselben als den Aus­spruch des gött­lichen Wil­lens und lege daher sein Schicksal ohne Weite­res in dessen Hände. Werde ihm das Leben geschenkt, so ver­danke er es um seiner Kin­der wil­len und, um durch ein gutes Ver­hal­ten zu zeigen, daß es ihm mit seiner Reue Ernst sei. Müsse er den Tod lei­den, so habe er es ver­dient, und es sei viel­leicht besser für ihn.
 Die Sitzung des großen Rathes fand Montags den 30. Juni statt. Die sämmt­lichen auf diesen Straf­fall bezüg­lichen Akten der Kanto­nal-Ver­hör­kommis­sion, die ihnen bei­gege­benen Belege, das Ur­theil des Krimi­nal- und Polizei­gerichtes vom 16. Juni 1862 und die Straf­sentenz des Ober­gerich­tes vom 23. des­selben Monats, sodann Bericht und An­trag der Stan­des­kommis­sion und end­lich die von drei An­ver­wand­ten des Schläpfer, von dem Herrn Orts­pfar­rer und dem Herrn regieren­den Haupt­mann seiner Bürger­gemeinde Grub ein­ge­reich­ten Peti­tio­nen, so wie die von Herrn Pfar­rer Bion ab­gegebene schrift­liche Rela­tion über den Seelen­zu­stand des Beklag­ten und damit ver­bun­dene Für­sprache der Begna­digung wur­den voll­ständig vorg­elesen, und nach der darauf­hin gewal­te­ten Berathung beschloß der große Rath, den diese wichtige An­gelegen­heit bei­nahe 5 Stun­den beschäftigt hatte:

1) Es sei die Begnadigung zu ver­weigern und dem­zufolge die Todes­strafe an dem Verur­theilten zu vollziehen.

2) Diese Schluß­nahme sei dem Inquisiten durch den Herrn Raths­schrei­ber Hohl, in des­sen Eigen­schaft als Kantons­polizei­direk­tor, im Begleite des Herrn Land­schreibers Schläpfer und des Herrn Land­weibels Sonder­egger, dieser mit der Standes­farbe, zur Kennt­niß zu bringen.

3) Der Kantons­polizei­direk­tor, Herr Rathss­chreiber Hohl, habe alle auf die Exe­ku­tion sich beziehen­den nöthigen Anord­nungen zu tref­fen, als Regierungs­ab­geord­neter, beglei­tet von Herrn Landes­polizei­ver­wal­ter Sturzen­egger und von dem Herrn Land­weibel Sonderegger, von diesem in der Standes­farbe, die Exekution zu überwachen und hier­über der Stan­des­kommis­sion einen Bericht, der den bezüg­lichen Kriminal­ak­ten bei­zu­legen sei, ab­zu­ge­ben.

4) Die Hin­richtung habe am mor­gen den 1. Juli zu einer von dem Regie­rungs-Ab­geord­neten näher zu bestimmenden Zeit, immer­hin aber spätes­tens 6 Uhr Mor­gens, durch den Exe­kutor Johann Baptist Betten­mann von Alt­stät­ten statt­zu­finden.

Wie wir ges­tern gemel­det, hat der große Rath in seiner Sitzung vom 30. Juni dem Raub­mörder Schläpfer die Begna­digung ver­weigert und zwar mit 41 gegen 13 Stimmen. Edel und warm soll, wie wir ver­neh­men, im Schoße des gro­ßen Rathes für Begna­digung des Un­glück­lichen, wie gegen die Todes­strafe über­haupt gesprochen wor­den sein. Auch durch ein­gegangene Bitt­schrif­ten von sei­ner Frau, dem Gat­ten seiner Schwes­ter, von sei­nem Stief­bruder Johannes Lanker, vom regieren­den Haupt­mann und dem Pfar­rer sei­ner Vater­gemeinde und Hr. Pfarrer Bion, der in amt­licher Stel­lung an die Behörde zu refe­riren halte und das Gesuch des Delin­quen­ten selbst befürwor­tend em­pfahl, wurde Für­sprache für den Unglück­lichen ein­gelegt. – Wie ernst indeß der große Rath den Fall behan­delte, geht daraus hervor, daß die Ver­hand­lungen volle 4 Stunden dauer­ten. – Der Delinquent selbst hat seinen 2 unschuldigen, unmün­digen Kin­dern ein Abschieds­wort hinter­lassen, das dem großen Rathe eben­falls mit­getheilt worden und ein schönes Zeug­niß für die reu­müthige und christliche Gesin­nung des Ver­urtheilten sein soll.
 Gestern Morgen, den 1 Juli, früh 6 Uhr, wurde die Exe­kution durch Meister Betten­mann von Alt­stätten in Gegen­wart des Regierungs­abgeord­neten, Herrn Kantons­polizei­direk­tor Raths­schreiber Hohl und der ihn begleiten­den Herren Ver­hör­aktuar Sturzen­egger und Land­weibel Sonder­egger (letz­terer in der Standes­farbe), rasch und glück­lich voll­zogen. Gefaßt und ruhig, ja muthig, mit christ­licher Er­geben­heit, ging er dem schauer­lich blutigen Tode entgegen, betete auf seinem letz­ten Gange und unter­hielt sich mit den ihn begleiten­den Geist­lichen, den HH. Knaus in Speicher und Büchler in Wald.
  In der Nähe des Schaffots, unmit­tel­bar vor seiner Ent­kleidung, kniete er nieder, hob seine gefessel­ten Hände empor und flehte ganz ver­nehmlich, daß Gott ihm gnädig sei und ihn stär­ken wolle, sowie auch, daß Andere an ihm ein warnen­des Bei­spiel neh­men möch­ten. Mit hoch zum Himmel er­hobe­nem Blick empfieng er den tödt­lichen Schwert­streich. – Herr Pfarrer Bion hielt die Stand­rede, die in kurzen ergreifen­den Wor­ten die Stelle Jak. 1, 14, 15: »Ein Jeglicher wird versucht, wenn er von seiner eigenen Lust gereizt und ge­lockt wird. Dar­nach, wenn die Lust empfan­gen hat, gebieret sie die Sünde, die Sünde aber, wenn sie voll­endet ist, gebieret sie den Tod« – auf den trau­rigen Fall anwandte und mit erns­ten Mahn­ungen schloß. Für den günstigen Ein­druck der­sel­ben zeugt, daß sie mit laut­loser Stille angehört wurde.
 Trotz der frühen Morgen­stunde hatten sich 4000–5000 Zu­schauer, darunter auch viele aus dem weib­lichen Geschlecht, bei dem Trauer­spiele ein­gefun­den, es fehlte auch dies­mal nicht an leicht­fertigen, rohen und lieb­losen Reden. Doch füh­len wir uns der Obrig­keit recht zu Dank ver­pflich­tet, daß sie eine Zeit be­stimmte, die ge­eig­net war, auf den Ernst der Masse ein­zu­wir­ken und dem Leicht­sinn und der Trunken­heit vor­zu­beu­gen. Die Menge zer­streute sich still und ruhig.
 Ebenso aner­kennend erwäh­nen wir der Voll­zugs­maß­regeln, nach wel­chen die bis­herigen pein­lichen For­malitä­ten, wie öffent­liche Anhörung des Urtheils vor dem Rath­hause nicht mehr in Anwen­dung kamen. Die ent­setz­lichen Schläge der Armsünderglocke hin­gegen mußte man wieder ver­neh­men. Möge die »Appen­zeller Zeitung« nie mehr in den traurigen Fall kommen, über den Voll­zug eines Blut­urtheils referiren zu müssen.
 Wenn das Ganze, das wir über den merk­wür­digen Kriminal­fall mit­theil­ten, hie und da einen auf­merk­samen Leser zum Nach­den­ken ver­an­laßt hat und für die Folge ein, wenn auch ge­ringes Mate­rial zur Kul­tur­geschichte unse­res Lan­des bietet, so ist unsere Ab­sicht er­reicht.


Geständniß des Metzger Schläpfer über seinen an B. Zürcher in Speicher verübten Raubmord

»Ich bin schuldig! Ich bin der Thäter! Bei dem Grab­ge­läute des Zürcher, das ich so eben höre, durch­schauert’s mich; ich will das Bekennt­niß ablegen. Ich habe schon lange ein trübes Leben geführt; Alles ist mir miß­glückt und ich habe meinem Leben schon mehr­mals ein Ende machen wollen, bin aber alle­mal, wenn ich es thun wollte, ver­hin­dert worden. Ich war schon seit längerer Zeit in Geld­ver­legen­heit, dies und der dadurch her­vor­gerufene häusliche Unfriede waren Ursache, daß ich mich mehr oder weniger dem Trünke ergab und so immer mehr in den Rück­stand kam. Letzten Mitt­woch gegen Mor­gen, ich lag noch zu Bette, ist mir der erste Gedanke zur That ein­ge­fal­len. Ich hatte kein Geld, kein Fleisch mehr; ich wußte mir nicht mehr zu hel­fen. Um halb 5 Uhr stand ich auf und machte eine Anzahl Würste. Jener Gedanke wuchs immer; ich konnte seiner nicht mehr los werden. Es war eine unglück­liche Stunde! Nach­dem ich meine Geschäfte in der Metzge ab­ge­macht, gefrüh­stückt und mich noch mit meinem ältern Kinde etwas ver­weilt hatte, wickelte ich das Stilet, den ich immer in der Metzg auf­zu­bewah­ren pflegte, in ein Papier ein, steckte es zu mir, in der Ab­sicht, zu Zürcher zu gehen, ihn um ein Dar­le­hen von 20 Fr. zu ersuchen und falls er mir nicht ent­sprechen würde, von dem Stilet Gebrauch zu machen. – Ich dachte, Zürcher werde das Heu­geld erhal­ten haben, sein Haus­mann Kästli sei fort­gezo­gen, er sei nun allein zu Hause, wenn er mich abweise, so wolle ich mit »Gröbi« hinter ihn her und ihn ums Leben bringen. Ich dachte den ganzen Morgen hin und her, wie ich’s auch noch anders machen könnte, allein ich fand keine andere Hülfe und immer kam ich wieder auf jenen Gedan­ken. Ich gieng, es mag so halb 9 Uhr ge­we­sen sein, direkt zu Zürcher. Ich traf noch den Kästli (Mieths­mann) bei Hause und gieng daher, nach­dem ich ge­fragt hatte, ob er nichts kaufe, in die Wirth­schaften von Tobler und Zürcher im Bend­lehn und trank an beiden Orten einen »Pfiff«, im erste­ren auch einen Schop­pen Most, sodann gieng ich in’s Brugger’s, wo ich eine Zigarre kaufte und sie an­steckte, und begab mich wieder zu Zürcher, den ich im Stalle traf; ich fragte ihn, ob er mir Spieß­holz zu kaufen geben könnte; sol­ches hatte ich war nöthig, deß­wegen gieng ich aber nicht hin; das war nur der Vor­wand, um mit Zürcher zu reden, er sagte ja und zeigte mir das Holz mit dem Bemerken, er müsse es noch zuerst aus­lesen. Ich erwiederte, ich werde es des Nachmit­tags holen. Inzwischen kam Jakob Bondt und brachte dem Zürcher‚ Milch, er kam mir uner­war­tet, ich wußte nicht, daß er dem Zürcher Milch bringe. Nach seinem Fort­gehen gieng ich mit Zürcher aus seinem Haus­gange, wo Bondt abge­stellt und mit Zürcher noch gesprochen hatte, die Treppe hin­unter wie­der in den Stall. Dort sagte ich zu ihm: »Zürcher, gieb mir doch 20 Fr., ich bin in großer Noth, ich kann nicht mehr wei­ter schaf­fen, und du kannst das wohl, ich gebe es dir wied­er.« Er sagte: »Ich kann nicht, ich habe selbst Schulden.« Ich ersuchte ihn sehr, aber in aller Güte darum. Mir klopfte das Herz; ich dachte, es ist doch eine traurige Sache, daß du zu so etwas schrei­ten mußt; wenn du es sonst machen könn­test, so woll­test du ihm lieber das Geld sonst nehmen. Ich sagte zu ihm, er solle sich besin­nen, ich komme etwa in einer hal­ben Stunde wieder. Dann gieng ich hinaus, ob durch die Haus­thüre oder durch das Tenns­thor, kann ich nicht mehr sagen, und in das Kellerli hin­unter, wo auf einer Bank ein Beil lag; ich dachte, ich wolle zuerst sehen, ob ich Geld bekomme, ohne den Zürcher zu tödten, nahm daher das Beil und gieng in den hin­tern Keller hin­über, von diesem durch die Küche und den innern Haus­gang die Treppe hinauf, fand aber die Kammer­thüre ge­schlos­sen; ich gieng wieder die Treppe hinunter und in die Stube und von da in die Kammer, wo ich mit dem Beil die Thüre eines Schrankes auf­sprengen oder auf­zwängen wollte, allein es nicht zu Stande brachte, ohne starkes Gepolter zu ver­ur­sachen. Ich gieng unver­richte­ter Sache wieder mit dem Beil hinunter, ließ es im innern Haus­gange vor der Stuben­thüre, verließ das Haus wieder durch den Keller und stellte mich, als komme ich wieder von außen her. Wir trafen uns im äußern Haus­gange. Ich sagte noch­mals zu ihm: »Willst du mir jetzt 20 Fr. geben?« Er sagte: »Ich kann nicht.« Ich ent­geg­nete: »Ja, du kannst!« Nun gieng er in den innern Haus­gang und ich ihm nach; drin­nen sagte ich: »Du mußt mir 20 Fr. geben; ich gehe dir nicht mehr aus dem Hause.« End­lich sagte er, er wolle sie mir geben, gieng die Treppe hinauf und ich mit ihm; darob wurde er zornig und sagte, das sei keine Manier, so gebe er mir die 20 Fr. nicht, faßte mich an und drohte mit An­zeige machen. Wir gien­gen wieder mit­einan­der zur Kammer hinaus, die Treppe hinunvter, und unten an derselben, im innern Haus­gange, wollte er das Fens­ter auf­machen und rufen. Ich hielt ihn, und auch das Fenster hielt ich zu. Wir zank­ten noch; ich sah mich ver­rathen; und nun – nahm ich das in der Brust­tasche meines Ueber­hem­des ver­sorgte Stilet, schob es innen am Ueber­hemde hinter dem Rücken durch und steckte ihm das­selbe in die Brust. Vorher schon hatte ich mir vor­ge­nommen, es so zu bewerk­stelligen, daß er nicht lange zu lei­den habe, son­dern fast ohne Empfin­dung sterbe. Ich gab ihm des­halb den Stich etwas ob der lin­ken Brust­warze; ich wußte, daß ein Stich an dieser Stelle rasch zum Tod führe. Zürcher bückte sich nach dem Stiche, faßte mir die Hand, in der ich das Stilet hielt, machte eine Kraft­anstreng­ung und wollte mir das­selbe zu ent­reißen suchen; ich kam mit der Spitze an die Wand und das­selbe zer­brach; das abge­brochene Stück muß im Haus­gange liegen ge­blie­ben sein oder in der Wand stecken. Das Messer selbst nahm ich in die Tasche. Zürcher fiel vor Ver­fluß einer Minute vor­wärts gegen mich hin auf die Hände, dann schnell auf das Gesicht; ich schaute, ob er todt sei; er regte sich nicht im Mindes­ten mehr; doch damit er unter allen Um­stän­den nicht lange zu lei­den habe, er­griff ich das Beil und gab ihm mit dem­sel­ben einen oder zwei Streiche mit dem Beil­rücken an den Kopf. Vor der That klopfte mir die Brust fürch­ter­lich; einem Menschen das Leben neh­men, erschien mir gräß­lich; doch ich mußte, ich wäre sonst ver­rathen gewe­sen. Nach der That fiel ich fast zusam­men; doch raffte ich mich auf, begab mich mit dem Beile in die Kammer, schlug zuerst die vor­dere Thüre an dem doppel­ten Kas­ten ein, sah nach Geld, fand aber keines; nun schlug ich auch die hin­tere ein und fand auch da keines; ich suchte schnell noch ein­mal und fand end­lich ein »Geld­säckeli« mit 34 Fr. 60 Rp., die ich in meinen Geld­beutel nahm; das »Säckeli« warf ich wie­der in den Kas­ten. Das Geld bestand in einem Zehn­franken­stücke, vier Fünf­franken­thalern, zwei Zwei­franken­stücken und 60 Rp. Münze, an der Mittel­wand im vor­dern Kasten hieng eine Uhr mit ein­fachem Ket­teli, an dem ein Petschaft ist; diese habe ich mit mir genom­men und da­heim hin­ter meine Metzg auf dem Boden unter dem Schirm auf die Mauer gelegt. Ich suchte noch nach Geld im Buffet in der Stube und Neben­stube, wo aber nur ein leerer Kas­ten und 2 leere Kis­ten stan­den, ich fand keinen Rappen mehr. Ich ver­ließ nun das Haus, steckte noch vor Zürchers Stall­thüre das Stilet am »Rähnli« in den Boden und gieng dem Röh­rer­sböhel zu in das Sägli, an welch’ letz­te­ren Ort ich sonst gegangen wäre.
 Etwa um halb 2 Uhr sagte mir Kindli­manns Sohn, Zürcher sei erstochen wor­den. Ich gieng nun auch hin, um ihn anzu­se­hen; ich dachte, da­durch könne ich den Ver­dacht von mir abwäl­zen, wenn sol­cher gegen mich bestehe, allein es war alles stille, nie­mand redete etwas; es schien mir, jeder denke, ich sei der Thäter; ich stand nun noch bei den Leuten vor dem Hause, um zu hören was etwa gesagt werde, aber man sprach sich nicht aus. Als ich heim­kam, ver­steckte ich die Uhr, und ein Fünf­franken­stück wechselte ich des Abends bei Bäcker Tobler’s, als ich mich mit der Polizei dort­hin begeben mußte, das übrige Geld ist vor­han­den, es ist mir hier ab­genom­men worden. Daß Zürcher in großem Geld­besitze sei, das glaubte ich nicht; denn er kaufte mir oft Würste ab, ohne sie zu bezah­len; ich wußte nur, daß der Senn von ihm weg­gefah­ren war und glaubte, er werde ihn bezahlt haben, ich ge­stehe, wenn mehr Geld vor­han­den gewesen wäre, so hätte ich mehr genom­men.
 Auf die Frage, wie ich im Gegen­satze zu meinem bis­herigen unbe­schol­te­nen äußer­lichen Wandel zu dem Ver­brechen habe kommen können, weiß ich nicht, was sagen. Ich kann mit der größten Auf­richtig­keit er­klä­ren, daß ich sonst in meinem Leben nie einen Mord­gedan­ken gehabt habe; gegen das Leben ande­rer wurde ich im Kriege gleich­gültig; es machte mir wenig, wenn einer neben mir hin­sank und des Meinigen war ich in letz­ter Zeit über­drüssig. Ich wußte mir nicht mehr zu rathen und zu hel­fen. An die Strafe, die ein solches Ver­brechen nach sich ziehe, dachte ich nicht, bis die That gesche­hen war; da er­griff mich große Angst.